Die Kraft der Langsamkeit

VON DORIS GANTENBEIN AM 01.12.2019

Wusstest Du, dass Dein Kind Experte ist in der Kunst der Langsamkeit? Es gibt sich die Zeit, um sich an kleinen Dingen im Alltag zu erfreuen, dabei zu verweilen und in aller Tiefe darin einzutauchen. Es gibt sich die Zeit für alle möglichen Dinge, welche wir Erwachsenen oft als Zeitverschwendung betrachten.

Tatsache Nr. 1 ist: Indem sich Dein Kind Zeit und Raum gibt, kann sein innerer evolutionärer Impuls wirken. Es kann sich entfalten und zum Blühen kommen.

Tatsache Nr. 2: Das Tempo Deines Kindes ist um einiges langsamer als jenes von Dir. Und hier liegt die grosse Herausforderung. Denn die wenigsten Erwachsenen sind bereit, sich der Langsamkeit ihres Kindes anzupassen. Dies würde doch vollkommen dem Lebensstil des Mainstreams widersprechen. Stattdessen wird vom Kind automatisch erwartet, dass es sich der Geschwindigkeit des Erwachsenen anpasst.
‚Komm schon, wir haben’s eilig. Sei nicht immer so langsam! Los, der Bus wartet nicht!’.

Allerdings sollte ein Kind das Leben eines Kindes führen und nicht das Anhängsel eines Erwachsenen sein. Sicher, ein Kind kann sich an fast alles anpassen, doch es ist nicht gut für es.

Wie wäre es, wenn Du mal den Versuch unternimmst, Dich der Langsamkeit Deines Kindes anzupassen und dabei Deine eigene Muße wiederzuentdecken? Davon profitiert nicht nur Dein Kind in höchstem Masse, sondern auch Du!

Nimm Dir also Zeit für die Langsamkeit Deines Kindes und erfahre dabei, was es heisst, zusammen mit ihm in diese neue Zeitqualität einzutauchen.

Doch wer hat schon Zeit für Musse und Langsamkeit?
Zeitnot ist in unserer modernen Gesellschaft zu einem Dauerzustand geworden.

Hinzu kommt, dass bereits unzählige Kinder von ihren Eltern von Termin zu Termin gejagt werden mit dem Wunsch, sie so früh wie möglich optimal zu fördern. Dies schadet einer gesunden kindlichen Entwicklung oftmals mehr als dass es von Nutzen sein würde.

Ich will Dir erklären, weshalb:

Angenommen, Du bist mit Deinem Kind ständig unterwegs, treibst es an, schleppst es von Ort zu Ort und setzt es unzähligen Sinneseindrücken aus, so besteht nicht nur die Gefahr, dass die inneren stattfindenden Lebensprozesse Deines Kindes ignoriert werden, sondern es dringt zusätzlich eine permanente Flut an äusseren und inneren, an optischen, akustischen und anderen sensorischen Reizen auf den ganzen Körper und das gesamte Bewusstsein Deines Kindes ein und muss verarbeitet werden. Und das benötigt Zeit.

Je mehr Reize das neurologische System Deines Kindes verarbeiten muss, je mehr Zeit und Energie braucht es dafür. Und gerade hier liegt der wunde Punkt.  

In der Regel wird das Kind bereits der nächsten Reizüberflutung ausgesetzt, bevor die Verarbeitung der vorher aufgenommenen Reize überhaupt abgeschlossen ist, also ohne dass Dein Kind genügend Zeit und Raum zum Verarbeiten der vielen Sinneseindrücke gehabt hat.

Die Toleranzgrenze für das Aufnehmen von Reizen ist von Kind zu Kind unterschiedlich und für besonders empfindliche Menschen kann bereits eine geringe Menge an Reizen ein Zuviel sein. Das Gehirn ist dann nicht mehr fähig die empfangenen Reize und Informationen richtig und sinnvoll zu verarbeiten und in eine Struktur zu bringen. Der ständige Bilderwechsel sorgt für winzige Adrenalinschübe und verlang eine Neueinstellung der Schaltkreise und Synapsen, was zu einer dauerhaften Stimulierung des Gehirns führt. Ist dies ständig der Fall, bedeutet diese Überforderung für den gesamten Organismus eine grosse Belastung.

Eine ständige Überflutung ist für Dein Kind wie eine Dürrezeit mit viel Hitze und wenig Wasser.

Stell Dir eine Pflanze vor, die mit Hitze überflutet wird und zu wenig Wasser bekommt. So wird die Pflanze nicht zum Blühen kommen. Das ist Stress pur für die Pflanze.

Sie ist aufgrund der Hitze so sehr damit beschäftigt zu überleben, dass ihr keine Ressourcen mehr bleiben, um sich ihrer ursprünglichen Aufgabe zu widmen, nämlich zum Blühen zu kommen. Sie hat nicht einmal mehr die Ressourcen frei, um die notwendigen Wurzeln zu bilden. Und je länger die Dürre anhält, je mehr beginnen ihre Blätter zu hängen und zu welken. Die Pflanze bräuchte unbedingt Wasser und weniger Hitze, damit sie sich erholen kann. Oder anders gesagt, sie braucht die richtige Umgebung. Bekommt die Pflanze mehr Wasser und ist weniger Hitze ausgesetzt, so kann sie zum Blühen kommen.

Ganz ähnlich ergeht es Deinem Kind. Wird es ständig mit Reizen überflutet und bekommt zu wenig Zeit und Raum zum Verarbeiten der vielen Eindrücke, dann bleiben keine Ressourcen mehr frei für den inneren evolutionären Impuls, welcher wirken möchte.
Zeit und Raum ist also etwas Essentielles, damit Dein Kind blühen kann.

Jedes Kind reagiert anders auf Reizüberflutungen, wie z.B. mit raschem Ermüden, Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Hyperaktivität, gereiztem oder aggressivem Verhalten, innerer Unruhe, Lernschwäche, und anderem.

Bei dauernder Reizüberflutung besteht die Gefahr, dass schleichend ein Suchtverhalten nach gewissen Reizen entsteht. 

Und da der Organismus sich schnell an etwas gewöhnt, wird schliesslich immer nach höheren Dosen verlangt und die Folge ist, dass das Kind oder auch der Erwachsene nicht mehr mit der Ruhe fertig wird und immer noch mehr Reize bis zum geht nicht mehr braucht.

Doch am Verheerendsten ist: Wenn das neurologische System dauernd damit beschäftigt ist, Reize zu verarbeiten, dann bleiben keine Ressourcen mehr frei für das Wesentliche, nämlich ein Versinken im Sein, aus welchem letztendlich der innere evolutionäre Impuls wirken kann.

Mit Langsamkeit nimmt sich Dein Kind exakt die richtige Dosis an Zeit, die es braucht, um Sinneseindrücke in sich aufzunehmen und diese zu verarbeiten. 

Vielleicht kennst Du das: Du möchtest zwar Deinem Kind liebend gerne die nötige Zeit für seine inneren Lebensprozesse gewähren, doch die Angst, Dein Kind könnte im Leben eine Chance verpassen, ist gross. Sehr gross sogar. Und hinzu kommt noch der gesellschaftliche Druck.

Aus dieser Not beginnst Du an Deinem Kind zu zupfen, zu ziehen und zu schrauben, oder anders ausgedrückt: zu erziehen, in jene Richtung, die Du gerne hättest in der Hoffnung, damit Dein Kind zum Blühen zu bringen. Das Risiko ist jedoch gross, dass Du mit diesem Verhalten die inneren Lebensprozesse Deines Kindes behinderst oder im schlimmsten Fall gar abwürgst.

Deshalb: Tue weniger, dafür das Richtige. 

Denke immer dran: Alles hat seine Zeit und Stunde, und Dein Kind macht in jedem Augenblick genau jene Entwicklungsschritte, für die es innerlich reif ist.

Gib also Deinem Kind und Dir selbst die nötige Zeit.

Es ist nicht etwas so, dass Du Zeit verlierst, indem Du Dir und Deinem Kind Zeit gibst. Du weisst die Zeit einfach anders zu nutzen. Beginnst Du Dein Tempo dem Tempo Deines Kindes anzupassen, so entdeckst Du die Langsamkeit als Stärke.

In diesem Sinne wünsche ich Dir ganz viel Zeit für Langsamkeit zusammen mit Deinem einzigartigen Kind. 

 «Lass die Beziehung zu Deinem Kind in voller Pracht erblühen – für Dich und Dein Kind!»

0 Kommentare

Dein Kommentar

Want to join the discussion?
Feel free to contribute!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.